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Reportage: Auf eigene Faust

 Vier Studenten fahren in einem vergilbten Sprinter 1500km in die südosteuropäische Pampa. Ihr Ziel: Die Flüchtlingscamps der Balkanroute. Unser Autor fährt mit. Ein Versuch über Komfortzonen, das Rauchen und den Willen zu helfen.

Es gibt Gefühle, die brauchen ihre Zeit. Melancholie etwa sammelt sich geduldig in einer Falte des Bewusstseins, bis man sie schlißelich zu spüren beginnt. Und es gibt wiederum solche, die sind plötzlich da. Dann aber so stark und unmittelbar, dass man glaubt, im Dunkeln gegen eine Betonwand zu laufen. Es heißt, so sei das mit der Liebe auf den ersten Blick. Die Wand, gegen die ich gerade gelaufen bin, heißt Ekel.

I.

Wir stehen in der klirrenden Novembernacht. Mit einem Schritt durch die Plane schlägt uns ein Schwall aufgeheizter Luft entgegen und mit ihr dieser beißend süße Geruch. Ich kenne ihn nur vom Vorübergehen. In Berliner U-Bahn-Stationen riecht es manchmal so. Es ist der Geruch von Schweiß, der über Tage und Wochen in die Kleidung gesickert ist. Hier füllt er den ganzen Raum, meine Mütze saugt ihn auf, die Haare, die Haut. Das Zelt ist groß wie eine Bahnhofshalle.

Sofort bildet sich eine Traube um uns. Gestreckte Arme, geöffnete Handflächen. Männer, Frauen und Kindergesten, Stimmgewirr: Battaniye, Battaniye. Es heißt Decke. Please und cold und Baby. Aber wir haben keine mehr. Ich schwitze in meinem Parka. Enttäuschte Augen, fremde Hände auf der Schulter, fremder Atem im Gesicht. Der Schweiß rinnt mir über die Stirn. 5 Uhr morgens, die siebte Nacht, nur dieses Gefühl ist neu. Plötzlich will ich einfach nur weg. Einfach raus: aus der Traube, dem Zelt, aus dem Camp, aus dem Land. Und nie wieder zurück. Aber der Reihe nach.

II.

Eine Woche zuvor kriecht ein betagter Sprinter durch dicken Nebel. Alle paar Kilometer säumen hochgewachsene Laternenmasten den Mittelstreifen und hüllen die Strecke in satten gelben Dampf. Dann wieder nur schwarz und die Wagenscheinwerfer, die nach einer Armlänge in der Suppe verschwinden.

Es ist der 13. November 2015. Ein paar Monate sind vergangen seit Ungarn, seit Budapest Keleti pályaudvar. Ein paar Monate seit der Geburt von „Wir schaffen das“, jener mysthischen Formel, die Grenzen öffnete, ein Formel, an der sich die deutsche Öffentlichkeit an Stammtischen und in Kommentar-spalten noch Monate reiben wird. Lara* sitz am Steuer. Ihre sonst so sprühend freundlichen Augen sehen müde aus, das gewellte rostfarbene Haar mit den einzelnen Dreadlocks trägt sie mit einem Band nach hinten zu einem breiten Zopf. Sie waren dort. Im September am Budapester Bahnhof, weil die Bilder so furchtbar waren. Nun haben sie wieder Geld gesammelt und Kleidung, den Bus bepackt und sind los in Richtung Balkanroute. Auf eigene Faust. Ich frage nach der Kalkulation, überschlage Kilometer, Verbrauch, Dieselpreis, Zeitaufwand. Im Stillen die Frage, ob das alles Sinn macht. Wäre es nicht klüger, das Geld in Institution zu stecken, die effektiver sind als das hier? Und um was geht es hier überhaupt? Idealismus? Rechtfertigungsdruck?

Vielleicht geht es auch darum, jenes schlechte Gewissen zu beruhigen, das über Wochen der Krise im Inneren reift; auch bei mir, bei jedem, der die Fernsehbilder sieht und über ein ein bisschen Empathie verfügt. Ich weiß es nicht. Wir fahren weiter in den Nebel. Meine Vorstellung von dem, was mich erwartet ist ebenso klar wie die Nacht hinter der Scheibe.

(…)

Der Text erschien in der Litaraturzeitschrift Chaussee, Heft 38. Eine vollständige Version kann man in Kürze hier als Download finden.

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